Tod am Wasser (Der pinkelnde Tod) ist der Titel eines Gemäldes des Leipziger Malers Max Klinger aus dem Jahr 1881. Es zeigt ein Skelett am Ufer eines Flusses stehend, während es einer Notdurft nachgeht. Mit dieser grotesken Situation entmystifiziert Klinger einerseits die allgegenwärtige Bedrohung durch den Sensenmann, andererseits stellt er ihn als aktiv handelndes Wesen dar. Diese kunsthistorische Referenz im Titel der Ausstellung Der pinkelnde Tod or what the dead do liefert den Ausgangspunkt einer Reflexion über die Beziehung der Lebenden zum Tod, zu nahestehenden Verstorbenen und zur Trauerarbeit in der westlichen Gesellschaft im Allgemeinen. Der Kunstverein Bielefeld freut sich eine Auswahl von Arbeiten von Lewis Hammond, Rosa Joly, Özgür Kar, Ana Mendieta, Phung-Tien Phan, Benoît Piéron, Raphaela Vogel, Apichatpong Weerasethakul und Sebastian Wiegand zu präsentieren, die sich mit diesem Thema auf persönliche, philosophische, spirituelle und politische Weise auseinandersetzen.
Die Gesundheitskrise im Zusammenhang mit Covid 19 hat eine gesellschaftliche Massenpanik vor der Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers und erst recht vor dem Tod offenbart. Diese Reaktion machte deutlich, wie unbequem das Thema zumindest im Westen aufgenommen wird und dass es scheinbar außer Trauerarbeit kaum alternative Mittel oder Rituale gibt, die das Gefühl der Leere, das der Tod eines geliebten Menschen hinterlassen kann, begleiten könnten. Mit dieser Feststellung führt die belgische Wissenschaftssoziologin und Psychologin Vinciane Despret in ihr Buch Au bonheur des morts (Zum Glück der Toten, 2015) ein. Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich im Westen die säkulare und offizielle Auffassung durch, dass der Tod nur dem Nichts weicht. Wo zuvor Nähe war, ist nun nichts mehr. Das Trauern, in seiner vereinfachten freudianischen Interpretation, ist scheinbar zur einzigen Möglichkeit geworden, mit dem Tod umzugehen. "Trauern", so erklärt die Autorin, "weist die Lebenden an, die Verbindungen zu den Verstorbenen zu lösen".
Aber wollen wir wirklich unsere Verbindung zu den Toten kappen? Wollen wir trauern? Und vor allem, haben wir die Wahl? Manchmal suchen uns die Toten in unseren Träumen heim, hinterlassen Zeichen oder verlangen sogar, etwas für sie zu tun. In Beloved (1987) von Toni Morrison, ein erschütternder Roman über die Geschichte der Sklaverei in Amerika, kommt eine der verstorbenen Figuren sogar in Fleisch und Blut zurück. Ob die Geschichte nun metaphorisch ist oder nicht, so zeigt sie dennoch, mit welchem Gewicht – mit welcher Präsenz – die Toten in unserem Leben stehen. In ihrem Nachleben können sie sehr aktiv sein. Natürlich ließe sich darüber schmunzeln und rationalisieren. Dennoch hören sie nicht auf, sich zu manifestieren. So betont auch Despret, dass "die Toten erst dann wirklich tot sind, wenn man aufhört, sich mit ihnen zu unterhalten, das heißt, sich um sie zu kümmern".
Aufgrund ihrer neuen Existenz oder besser: ihres neuen „Existenzmodus“, verlangen die Toten nach einem entsprechenden Platz. Roland Barthes‘ Journal de Deuil (zu Deutsch: Tagebuch der Trauer) bietet eine Interpretation dessen, was es bedeuten könnte, einem Verstorbenen Raum zu geben. Über die Dauer von zwei Jahren nach dem Tod seiner Mutter sammelte der französische Autor Eindrücke seiner täglichen Trauer. Die Seiten des Buchs, das immer wieder an seine Mutter erinnert, werden zu einem Ort, an dem sie weiterhin wirkt. Durch seine Worte schenkt Barthes ihr ein bereichertes, posthumes Schicksal.
So entspringt die Idee zur Ausstellung Der pinkelnde Tod what the dead do der Dringlichkeit, dem Tod einen Platz im Leben einzuräumen, einen Platz, der das Leben dem Tod näherbringt und an dem diese beiden Zustände nicht in einem binären Gegensatz erscheinen. Durch Erinnerungen, Gegenstände, Rituale und durch die Hervorhebung des Unsichtbaren und Unsagbaren in den Werken wird der Tod zu dieser sich stets wandelnden Entität: Eine Quelle der Fluidität zwischen dem Äußeren und dem Inneren, dem Vorher und dem Nachher, dem Anderen und dem eigenen Selbst.
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