Mit Klassenzimmer (Sala de Classe) zeigt der Kunstverein Bielefeld die erste institutionelle Einzelausstellung von Andréa Hygino (* 1992, Rio de Janeiro, Brasilien). Wiederkehrender Ausgangspunkt in der künstlerischen Arbeit Andréa Hyginos ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Schule und die damit in Verbindung stehenden Erfahrungen von strukturellem Rassismus und Klassismus. Anhand des öffentlichen Bildungssystems Brasiliens betrachtet Andréa Hygino die mikropolitische Dimension weiterhin bestehender kolonialer Denk- und Handlungsweisen, die sich im Klassenzimmer abspielen und schafft Arbeiten, die Formen der Normierung ebenso wie der Transformation und Teilhabe adressieren. In den Werken der Künstlerin verflechten sich Kindheitserinnerungen – an die von ihrer Mutter gegründete Schule – mit ihren heutigen Erfahrungen als Künstlerin und Lehrerin. Die in der Ausstellung gezeigten Fotografien, Videoarbeiten, Installationen, Zeichnungen, Skulpturen und Texte sind geprägt von Prozessen des Lernens und Verlernens, von Schüler:innenprotesten im sogenannten Globalen Süden und von Sprache als einer Kulturtechnik dekolonialer Praxis. Ihre Werke konfrontieren den Zusammenhang von pädagogischer Bildung und kolonialen Bedingungen. Sie ermöglichen ein Gespräch über die Verantwortung, die mit dieser Verstrickung einhergeht.
Der mehrdeutige Titel „Klassenzimmer“ referiert sowohl auf den Raum einer Schulklasse als auch auf einen Handlungsrahmen, der gesellschaftliche Asymmetrien in Form von Klassen reproduzieren kann. Übersetzt aus dem Brasilianisch-Portugiesischen bedeutet Klassenzimmer “Sala de aula“. Mit der bewusst gesetzten inkorrekten Wort-für-Wort-Übersetzung aus dem Deutschen schlägt die Ausstellung mit “Sala de classe“ einen sprachlichen Versuch vor, der die Offenlegung “zwischen den Zeilen“ liegender Machtstrukturen im Sinn hat.
Welche Methoden und Praktiken aus dem Klassenzimmer schreiben sich in den Körper von Schüler:innen ein?
Die Auseinandersetzung der Künstlerin mit dem schulischen Umfeld findet entlang des Körpers statt. Andréa Hygino betrachtet die machtstrukturellen Einwirkungen auf diesen ebenso sowie das Wissen, das vom Körper ausgeht. Dabei symbolisiert das wiederkehrende Bild des geöffneten Mundes, der spricht, isst und kaut, einen Ort der Ermächtigung. Die Arbeiten Andréa Hyginos beschreiben Übungen des (Zurück-)Sprechens, die eine Bewegung vom Schweigen zur Rede hin markieren. Sie befragen aber auch die politische Bedeutung des Essens und der Verdauung in Verbindung mit Bildung.
Während der Produktion der Ausstellung fanden mehrere kunstpädagogischer Workshops von Andréa Hygino in Kollaboration mit der Laborschule Bielefeld und der Westkampschule Bielefeld mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation statt. Die Ergebnisse der Workshops werden teilweise in den Räumen des Kunstvereins zu sehen sein. Die Ausstellung wird zudem von Besuchen der Arbeitsgruppe 10: Migrationspädagogik und Rassismuskritik sowie dem Oberstufen-Kolleg der Universität Bielefeld begleitet. Zudem findet im Rahmen der Ausstellung eine Lehrveranstaltung unter dem Titel Thoughts on school – Schreibpraktiken spekulativer Fabulation für das Institut der Medien und Kulturwissenschafft der Heinrich Heine Universität statt.
Darüber hinaus hat die Künstlerin eine ortsspezifische Arbeit unter dem Titel Espaço livre para matar aula (Pausenraum) im Außenbereich des Kunstvereins entwickelt, die gemeinsam mit der Pausenklingel der gegenüberliegenden Schule eine „Pause“ anstimmt. Die zweite Arbeit im Innenhof des Kunstvereins referiert unter dem Titel Domingos, Feriados, Rios, Marés (Sonntage, Feiertage, Flüsse, Gezeiten) ebenfalls auf einen solchen Moment der freien Verfügung. Die auf Wäscheleinen zwischen den Bäumen befestigte Schuluniformen lassen an die vorherige Entledigung der Kleidungsstücke denken und stellen ebenso das demokratische Versprechen der Gleichbehandlung kritisch in Frage. Die Arbeit Cadeira Universitária (Universitätsstuhl) erweitert den Rahmen der Ausstellung in den öffentlichen Raum der Stadt Bielefeld hinein. Andréa Hyginos Auseinandersetzung mit dem Stuhl im Verhältnis zum Körper ist hier Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung der vorgegebenen Sitzhaltung innerhalb und außerhalb von Räumen der Bildung. Der Hinterfragung der fortwährenden Aufforderung an den Körper „Platz zu nehmen” verleiht die Künstlerin in der Zerlegung der Elemente des Sitzmobiliars Ausdruck. Mit den Siebdrucken, die an verschiedenen Orten in der Stadt zu entdecken sind, verbindet sie künstlerische Mittel der Dekonstruktion mit Formen des Protests, die eine Neuzusammensetzung vorschlagen. Die beiden letztgenannten Arbeiten sind erstmals im Kontext von Rio de Janeiro, der Stadt, in der die Künstlerin lebt und arbeitet, entstanden und finden eine ortsspezifische Übersetzung in den Kontext von Bielefeld.
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