In der Ausstellung Der zwanglose Zwang, die vom 1. März bis zum 27. April 2025 im Kunstverein
Bielefeld stattfindet, führt der bildende Künstler, Bühnenbildner und Schauspieler Alex Wissel seine
langjährige Beschäftigung mit den Wurzeln antidemokratischer und identitärer Politik des
Rechtspopulismus fort, die in neuen installativen Werkgruppen, die speziell für diese Ausstellung
entwickelt wurden, münden.
Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die Figur des Philosophen Jürgen Habermas als Repräsentant der
von ihm geprägten Kommunikationstheorie, die das kulturelle Selbstverständnis öffentlicher Debatten
in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 maßgeblich geprägt hat. In seiner Theorie des
kommunikativen Handelns argumentiert Habermas, dass sich das beste Argument durch rationale
Überzeugung und ohne äußeren Zwang durchsetzt. Wissel gleicht diesen Denkansatz mit unserer
Gegenwart ab, die von neoreaktionären Ideengebern wie Nick Land, Peter Thiel und Elon Musk
geprägt ist. Diese sehen Freiheit nicht mehr als Teil der Demokratie, sondern plädieren für eine
vollständig privatisierte Öffentlichkeit, die Habermas als „zerstörte öffentliche Sphäre“ bezeichnen
würde.
//
Unsere Ausstellung beginnt mit der Finanzkrise 2008. Der Tech-Oligarch, Milliardär und Gründer von PayPal, Peter Thiel, verliert viel Geld. Auf einem Panel wird er 2009 verkünden, dass Freiheit und Demokratie nicht mehr vereinbar seien. „Die große Aufgabe der Libertären besteht darin, einen Weg zu finden, um der Politik in all ihren Formen zu entkommen.“
Wem gehört das Gesicht?
Wer ist der Mann, der uns, auf den Kopf gedreht, von den Wänden des Kunstvereins anblickt?
Jürgen Habermas.
Jürgen Habermas, geboren 1929, ist ein deutscher Philosoph und einer der einflussreichsten Denker der Nachkriegszeit. Bekannt wurde er vor allem für seine Theorie des kommunikativen Handelns. Darin argumentiert er, dass vernünftige Kommunikation, die auf Argumentation und Verständigung basiert, die Grundlage für eine demokratische Gesellschaft und eine gerechte Legitimation politischer Entscheidungen bildet. Eine solche demokratische Debatte soll eine ideale Sprechsituation voraussetzen, in der der Austausch verschiedener Perspektiven und gegensätzlicher Meinungen gewährleistet wird. Erst wenn alle Sprechenden gleichberechtigt beteiligt sind, kann der zwanglose Zwang des besseren Arguments zur Geltung kommen. Dabei müssen die gemeinsamen Verfassungsgrundsätze als unstrittig vorausgesetzt werden. Diese Idee hat das kulturelle Selbstverständnis öffentlicher Debatten in der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig geprägt.
Unsere Ausstellung beginnt am 6. Juni 1986, der Historiker Ernst Nolte veröffentlicht in der FAZ den Text „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ und eröffnet damit den Historikerstreit. In Deutschland findet erstmals eine öffentliche, überregionale Debatte darüber statt, ob es einen „Schlussstrich“ in der Frage der Einzigartigkeit der „nationalsozialistischen Judenvernichtung“ geben könne. Habermas bezieht mit einem Artikel „eine Art Schadensabwicklung“ in der ZEIT am 11. Juli 1986 die Gegenposition. Die Gruppe um Habermas, die für die Singularität des Holo- caust plädiert, gewinnt den Streit und legt damit den Grundstein für eine deutsche Erinnerungskultur.
In der Ausstellung steht eine Nachbildung des Grabsteins von Martin Kippenberger. Wie der herabhängende AfD-Pfeil ist auch der Grabstein Kippenbergers Teil eines Bühnenbildes für das Stück Man muss sich Mephisto als einen glücklichen Menschen vorstellen, das aktuell im Düsseldorfer Schauspielhaus inszeniert wird. Beide Elemente wurden für die Ausstellung aus dem noch laufenden Theaterstück entliehen und werden während der Laufzeit zwischen Bielefeld und Düsseldorf pendeln. Der Grabstein ist Display für den Film HA HA M.K.B.H. Was ist schlimmer als verlieren?, den der Künstler Wissel (b.1983) gemeinsam mit dem Regisseur Jan Bonny realisiert hat. Der Film ist ein offener Prozess und sieht sich in der Tradition der Geschichtswerkstätten der 1970-er Jahre. Er besteht aus fiktionalen Szenen, Reenactments und Gesprächsrunden mit Zeitzeug:innen. In HA HA M.K.B.H. Was ist schlimmer als verlieren? werden Aktionen und Interviews des Künstlers Martin Kippenberger aus den 1980-er Jahren mit Aktionen und Interviews des Rechtspopulisten Björn Höcke in einer Parallelmontage zusammengeführt. Ziel ist es innerhalb eines kollektiven Denkprozesses einer Vermutung auf den Grund zu gehen: Hat in den 1980-er Jahren im subversiv verstandenen, provokanten, postmodernen Spiel mit Zeichen, Haltungen und Symbolen etwas angefangen, was jetzt politische Realität im reaktionären Backlash geworden ist?
In diesem Raum richtet sich immer wieder der Blick von Habermas auf uns, gestikulierend und unermüdlich argumentierend. Habermas hat in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder intervenierend und mahnend in öffentliche Debatten eingegriffen. Die Portraits sind auf Raufaser gezeichnet. Die Wahl des Maluntergrunds ist kein Zufall. Raufaser, eine Tapete aus mehreren Papierschichten mit eingearbeiteten Holzspänen, war besonders in der Nachkriegszeit beliebt, um Baumängel und unebene Wände zu kaschieren. Habermas kritisierte den wirtschaftlich und technisch orientierten Aufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem eine tiefgehende gesellschaftliche und politische Aufarbeitung des Nationalsozialismus weitgehend ausblieb. Das Haus wurde bewohnbar, wenn auch in Schieflage.
Unsere Ausstellung beginnt im Dezember 2019. Alex Wissel, der gelegentlich auch als Bühnenbildner und Nebendarsteller arbeitet, baut für eine Ausstellung Pestbeulen. Die Beulen fertigt er in einem schnellen Arbeitsprozess aus Styropor und Pappmaché an. Sie erinnern eher an Karnevalsattrappen als an infektiöse Hautkrankheiten. In den nächsten Jahren wird er die Beulen immer wieder ausstellen und parallel zu dem sich entwickelnden Rechtsruck weiter an ihnen arbeiten, so dass sie mit jeder Ausstellung „realistischer“ aussehen. Bei der Arbeit an den Beulen für diese Ausstellung bekommt Wissel selbst einen realen Hautausschlag. Er fragt sich: Habe ich mich angesteckt?
Über eine Treppe gelangen die Besucher:innen in den unterirdischen Bereich des Bielefelder Kunstvereins. Diese Räume sind bereits vollständig von eitrigen Pestbeulen überwuchert. In einer Videoinstallation verdichtet sich Wissels gesammelte Bildrecherche zur Frage, wie (deutsche) nationale Identität im 19. Jahrhundert in einem transmedialen Prozess durch groß angelegte Künstlerfeste geschaffen wurde. Im Raum verweisen Objekte und Beulen zudem auf die nähere Umgebung um Bielefeld. Mit dem Hermannsdenkmal, den Externsteinen und der Wewelsburg finden sich rund um den Teutoburger Wald drei Wallfahrtsorte für rechte Ideologien und Esoterik.
Solche Orte spielen eine wichtige Rolle im erklärten Projekt der neuen Rechten von einer „Abwicklung der Aufklärung“ zu einer „Wiederverzauberung der Welt“. Okkultes Denken ist tief in der antidemokratischen, neofeudalen Philosophie der Neoreaktionären Bewegung um Nick Land, Curtis Yarvin und Hans-Hermann Hoppe verankert. Im nächsten Raum malt eine Schaufensterpuppe mit Deutschland-Künstlerhütchen die Baustelle des Berliner Stadtschlosses. Das 19. Jahrhundert gilt sowohl diesen libertären Vordenker:innen und „Anarchokapitalist:innen“ als auch völkischen Nationalist:innen wie Björn Höcke als eine der Gegenwart überlegene Zeit und Staatsform. Der Habermas-Schüler Hoppe betont jedoch, dass sowohl Demokratie als auch Monarchie hinfällige Systeme seien und bevorzugt eine andere Organisationsform, die er als „natürliche Ordnung“ bezeichnet, ein System ohne nationalstaatliche Autorität, das ausschließlich auf Privateigentum beruht. In diesem System sind alle Staatsfunktionen privatisiert.
Unsere Ausstellung beginnt im Jahr 2022. Jürgen Habermas veröffentlicht sein Buch „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“, in dem er seine Thesen aus den 1960-er Jahren im Kontext der digitalen Medien reflektiert. Er diagnostiziert eine Fragmentierung der Öffentlichkeit: Was einst als Pluralität von Stimmen gedacht war, hat sich in ein algorithmisch gesteuertes „Baden im eigenen Saft“ verwandelt. Die Menschen verharren in digital verstärkten Echokammern, in denen sie nur noch Informationen konsumieren, die ihre bestehende Sichtweise bestätigen. Im Oktober desselben Jahres kauft der Unternehmer und Milliardär Elon Musk die Kommunikationsplattform Twitter und baut sie mit veränderten Algorithmen umgehend zu X um.
Im Obergeschoss des Bielefelder Kunstvereins ist eine karnevaleske Figur an die Wand gemalt. Sie trägt einen Morphsuit in Form einer US-Flagge. Morphsuits sind enganliegende Ganzkörperanzüge, die u.a. bei Special Effects im Film verwendet werden, um die Träger:innen mit ihrer Umgebung unsichtbar werden zu lassen. Die Figuren in Morphsuits haben aufmerksamkeitswirksam und doch anonym mit den Habermas-Portraits herumgekaspert. Die Portraits von Habermas‘ Gesicht sind derweil vollkommen verrutscht. Sie haben sich aufgelöst und hängen in Einzelteilen im Raum verteilt.
Die Ausstellung beginnt am 14. Februar 2025 während der Münchner Sicherheitskonferenz. Der U.S. Vizepräsident JD Vance hält eine disruptive Rede, in der er die Abschaffung der „Brandmauer“ fordert und indirekt zur Wahl der AfD auffordert. Ist das das vorläufige Ende des transatlantischen demokratischen Austauschs, der seit 1945 vorherrschend war, der eigentliche Beginn des 21. Jahrhunderts? Und ist dies das Ende von Habermas‘ Lebenswerk und seiner vernunftge- steuerten Konsenstheorie?
Unsere Ausstellung endet im letzten Raum des Obergeschosses des Bielefelder Kunstvereins. Die zentrale Installation hat Wissel zusammen mit dem bildenden Künstler Peter Lober bereits im Jahr der Finanzkrise 2008 realisiert. Zwei Spiegel, etwa so groß wie ein Mensch, sind auf der Rückseite miteinander verbunden. Beide Spiegel haben in Augenhöhe zwei Löcher. Wenn zwei Personen frontal zueinanderstehen und einander anblicken und sich die Arbeit zwischen ihnen befindet, sehen sie beide die Augen des Gegenübers in ihrem eigenen Spiegelbild.
Quellen:
Rudolf Augstein, Karl Dietrich Bracher, et al., Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1978.
Max Chafkin, Peter Thiel - Facebook, PayPal, Palantir, München 2021.
Philipp Felsch, Der Philosoph, Habermas und wir, Berlin 2024.
Saul Friedländer, Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, Berlin 2007.
Titus Gebel, Freie Privatstädte, Moos 2023.
Jürgen Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin 2022. Jürgen Habermas, »Es musste etwas besser werden ...« Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos, Berlin 2025.
Hans-Hermann Hoppe, Demokratie, der Gott der keiner ist, Bad Schmiedeberg 2001.
Nick Land, Okkultes Denken, Berlin 2023.
Martin Langebach (Hrsg.), Germanenideologie, Bonn 2020.
Stefan Müller-Doohm, Jürgen Habermas: Eine Biographie, Berlin 2014.
Quinn Slobodian, Kapitalismus ohne Demokratie, Berlin 2023.
Peter Thiel, Zero to One. Wie Innovation unsere Gesellschaft rettet, Frankfurt am Main 2014.
Stephan Trüby, Rechte Räume. Politische Essays und Gespräche, Gütersloh, Berlin 2020.
Michael Cornelius Zepter, Maskerade. Künstlerkarneval und Künstlerfeste in der Moderne, Köln, Wien, Weimar 2012.
KUNSTVEREIN BIELEFELD
Welle 61
33602 Bielefeld
Do - So 12:00 – 18:00
Mo–Mi, nach Vereinbarung
An Feiertagen geschlossen
Ostern: von 18.04. bis zum 21.04.2025 geschlossen
T +49 (0) 521.17 88 06
F +49 (0) 521.17 88 10
kontakt@kunstverein-bielefeld.de
